Hier ist Leben! Satt und saftig!

Die Sonne scheint, der Wein rinnt durch die Kehlen, die Menschen schön, das Leben will.

An der Straße eine Kneipe, draußen Tische und Stühle, Menschen reden, lachen. Dabei geht es dieser Tage viel um Ökonomie, um Südeuropa, um den dämlichen Präsidenten, den wohl alle hassen (wer hat ihn dann gewählt?), um Europa, um alles. Gelacht wird trotzdem. Nicht unbedingt heiter. Aber die Sonne scheint, der Wein rinnt durch die Kehlen, die Menschen schön, das Leben will. Warum also die Mundwinkel hängen lassen?

Angekommen in der Provence. Nicht in der Siebeck-Feinschmecker-Provence; dort, wo auf karierten Tischtüchern geschmorte Wildschweinkaldaunen kredenzt werden und man das „Wie-Gott-in-Frankreich-leben“-Sprichwort erfunden und missbraucht hat; sondern angekommen in der Weinregion Provence, schon etwas näher zum Meer hin, bei Aix, Toulon und Marseille, dort, wo die Franzosen seit Jahren auch rechtsextreme Bürgermeister wählen.

Es ist ein schönes Stück Land, ein bisschen Geruch der noblen Côte, ein bisschen Geruch von Maghreb, ein bisschen Anarchie, durch die hohe Schnellzugtrassen eine Schneise ziehen.

Hier lebt Raimond de Villeneuve. Hier macht er Wein auf Château de Roquefort. Was für ein Name. Für den Mann. Und sein Château. Adel verpflichtet. Doch wozu? Raimond de Villeneuve verpflichtet sich, seine Besucher persönlich vom Bahnhof abzuholen. In einem schönen, etwas angejahrten Audi A3, in dem die Klimaanlage stark in den blauen Bereich gedreht ist. Trotzdem trägt Villeneuve nabelfrei.

Sein Château de Roquefort heißt nach dem Ort und nicht nach dem Käse. Aber Villeneuve weiß eh, das er hat, was andere suchen, finden und kaufen müssen: zwei geniale und genial einfach zu merkende Namen. Und er hat noch etwas. Er hat sie bekommen und weitergetragen. Gelebte Solidarität. Davon will er heute erzählen.

Weil er auch von Beispielhaftem erzählen will. Beispielhaftem, das in die Zeit passt und in die Welt, wie sie gerade ist. Beispielhaftem, das hier, in seiner Region gut ankommt und die Runde macht. Beispielhaftem, worüber man auch in der Kneipe spricht – beim ersten Stopp (ein Pastis, ein Bierchen – nein zwei).

Villeneuve sagt: „Ich war am Ende und wurde von meinen Kollegen gerettet.“ Sein Château liegt gut in die Landschaft gebettet. Von der Terrasse aus kann man weit ins Land sehen, vor allem aber über seine 25 Hektar Weingärten, wo er Grenache, Syrah, Cinsault, Mourvèdre, Carignan, Clairette und Ugni Blanc anbaut. Villeneuve residiert alleine. In einem Nebentrakt wohnen seine portugiesischen Landarbeiter, die in ihrer Heimat selber Wein machen, einen vorzüglichen Portwein, den sie in die Provence mitbringen, weil er sie an die Heimat erinnert. Sie trinken ihn, wenn sie traurig werden und trinken müssen.

Einer für alle, alle für einen. Raimond de Villeneuve (9.v.l.) mit seinen Winzerkollegen, die ihn gerettet haben.

Villeneuve residiert alleine, doch alleine ist er selten. Oft kommen Freunde. Öfter kommen Frauen. Villeneuve ist ein verbindlicher Liebhaber.

Wie viel ist übergeblieben? „15 Kilo! 15 Kilo von 200 Tonnen.“

Liebhaber des Lebens, einer, der zu seiner Lebensweise, zu seinen Affären, zu seiner Lust steht, das Dasein spürbar wahrhaftig werden zu lassen. Jede Minute mit ihm ist ein Rausch, ein Feuerwerk, ein Tanz. Doch selbst wenn er um vier Uhr früh Chansons auflegt und laut dazu singt (hier gibt es keine Nachbarn), kann er in der Sekunde auf ein ernsthaftes Thema umschwenken, wenn das Ernsthafte Thema ist.

Villeneuve war am Ende. Das war 2012. Das Ende kam am ersten Juli und dauerte knapp sieben Minuten. Der Himmel verfinsterte sich, die schwarzen Wolken trugen jenen grünen Saum, der das Unheil gewiss macht. Hagel! Wenn Frau Holle zu Frau Hölle wird! Hagel kann viel vernichten, doch Hagel lässt meistens etwas stehen. Etwas zum Weitermachen. Dieser Hagel nicht!

„Ich rannte in meinen Espadrilles hinaus, um noch ein paar Fotos zu machen“, erzählt Villeneuve, „doch dann wurde mir schnell kalt um die Füße und ich sah, dass ich bis zu den Waden in tennisgroßen Eisbällen stand, die die ganze Zeit auf mich runterprasselten. Ich habe das gar nicht gemerkt und mir so ein paar blaue Flecken geholt.

“Villeneuve lief zurück ins Haus und holte sich festes Schuhwerk, seine „Winterschuhe“, wie er sagt, denn draußen war es Winter geworden, weißes Eis, so weit er schauen konnte. Geschosse, die seine Rebstöcke verletzten und den Ertrag des Jahres fast zur Gänze vernichteten. Wie viel ist übergeblieben?„15 Kilo! 15 Kilo von 200 Tonnen.“

Das war es dann, dachte sich Villeneuve, als er seine Hänge sah. Er ließ die Kamera sinken – wozu noch Fotos machen? – ging zurück ins Haus und schenkte sich ein Glas ein. „Das ist der Punkt, an dem dein Leben eine Vollbremsung macht“, erinnert sich Villeneuve, „augenblicklich ist dir klar, dass es jetzt ums Überleben geht. Um nichts anderes als ums Überleben. Und du weißt auch, dass du eigentlich tot bist. Nach so einem Schaden gibt es praktisch kein Überleben. Der Jahrgang ist weg, die Versicherungen zahlen wenig bis nichts und du stehst bei null."

„Augenblicklich ist dir klar, dass es ums Überleben geht. Um nichts anderes als ums Überleben. Du weißt auch, dass du eigentlich tot bist."

“Wie ging es weiter?

„Ich habe meine Schwester angerufen, sie ist gekommen, wir haben das Wasser aus der Wohnung gewischt, denn die Türen waren ja alle offen und die Wohnung überschwemmt. Und dann haben wir uns Spaghetti gemacht, ein paar Flaschen Wein getrunken und auch ein bisschen gelacht.“

Gelacht?

„Ja, gelacht.“

Am nächsten Tag sah er, welches Unwetter gerade über seinem Weingut gewütet hatte. Und welche biblischen Ausmaße es hatte. Zwischen den Zweigen und Blättern der Rebstöcke lagen auch Dutzende tote Vögel, die der Hagel vom Himmel geschossen hatte. Kollateralschäden. Villeneuves Weingärten waren ein Vogelfriedhof. „Das hatte fast schon etwas Mystisches“, sagt Villeneuve, „denn du erkennst, dass es nicht nur deine Katastrophe ist, dass auch du nur Teil eines Ganzen bist, und dass du die toten Vögel gar nicht gesehen hättest, wenn der Hagel über einer unbenutzten Wiese abgegangen wäre. Die toten Vögel wären niemandem aufgefallen.“ Die Vögel – übrigens – kamen niemals wieder. Der Hagel hatte etwas Dauerhaftes angestellt. Auch bei den Menschen. Villeneuves Winzerkollegen sahen das Schlamassel beim Vorbeifahren. Sie blieben stehen, kamen rein und schüttelten gemeinsam mit dem Patron den Kopf – was für eine Katastrophe!

Aber Villeneuve wusste auch, dass zu viel Kopfschütteln das Hirn durcheinanderbringt und so fasste er Mut und fragte, ob irgendwer Trauben zu verkaufen hätte. Er wollte zumindest ein paar Flaschen für die wichtigsten Abnehmer machen. Denn eines ist klar: Wenn du nicht liefern kannst, wirst du schnell ausgelistet. Der Handel kennt zwar Verständnis, aber keine Erbarmen. Ene, mene, muh – und raus bist du.

„In dieser Gegend der Provence“, so erklärt Villeneuve, „geht jeder normalerweise seinen Weg und kümmert sich wenig um den anderen. Man hat einen gewissen Scheuklappenblick, nicht unbedingt böse gemeint, aber schon sehr stark auf sich und seine Interessen konzentriert. Ich habe mir also außer freundlichem Bedauern nicht viel erwartet.“

Doch es kam anders. Viele Winzer begannen etwas von ihrer Ernte für Villeneuve abzuzweigen, noch bevor überhaupt geerntet wurde. Ein paar Kilo von dem Kollegen, ein paar Kilo mehr von dem anderen Kollegen, der ja kann, weil er viel größer ist. Und ein paar Kilo auch von Kollegen, die weiter weg waren, doch von dem Drama und der Aktion gehört hatten. Auch die Medien bekamen davon Wind und schickten Teams.

Zuerst das lokale Fernsehen, dann die nationale Presse.

Raimond de Villeneuve war mit seinem Unglück zum Symbol des Zusammenstehens geworden und obwohl die Medien schon seit Tagen berichteten, kamen immer noch Winzer hinzu, die davon nur vom Hörensagen gehört hatten – also aus dem Mund anderer Winzer:

„Hast du das von dem Roquefort in der Provence gehört?“

Raimond de Villeneuve zahlte einen symbolischen Euro pro Winzer und bekam viele Hunderte Kilo geliefert, die es ihm möglich machten, 130 000 Flaschen zu füllen. Es wären noch mehr Flaschen geworden, hätten die Behörden nicht einen Riegel vorgeschoben. Zu viele Trauben aus zu vielen verschiedenen Gebieten – das war der Behörde irgendwann zu viel Panscherei. Auch wenn es für einen guten Zweck war.

„Ich bin froh“, sagt Villeneuve, „dass die Beamten überhaupt so lange stillgehalten haben. Normalerweise sind die da viel schneller da und verbieten dir alles. Aber da haben die Presseberichte sicher geholfen. “Und heute? Was blieb Jahre nach dieser im französischen Weinbau noch immer einzigartigen Aktion? Villeneuve muss nicht lange überlegen:

„Dass eine Brüderschaft entstanden ist, die weiter besteht und die besser ist, als jede Versicherung.

In der Provence ist die Erde hart, meine Aktion hat sie aufgelockert.

Denn auch nachdem der Wein gekeltert war und das Drama eigentlich einen guten Ausgang genommen hatte, sind noch Winzer gekommen und wollten mit dabei sein. So hat dieser schreckliche Hagel Gutes bewirkt. Und das Gute bleibt.“

Villeneuves solidarische Winzerkollegen:

Den Stempel aufgedrückt: Der Hagelwein "Grêle". dessen Etikett zum Dank die Namen der "rettenden" Weingüter trägt.

Château Ste Anne

Domaine de St. Bacchi

Domaine du Bagnol

Domaine de la Bastide Blanche

Domaine les Beates

Château de Beaupre

Domaine de la Begude

Domaine Bunan

Domaine du Coulet

Domaine la Fourmente

Domaine de Gayolle

Domaine Henri Milan

Mas Juliette

Château Lacoste

Domaine St. Louis-Jayne

Domaine Les Luquettes

Château Les Mesclances

Domaine de la Mongestine

Domaines Ott

Château de Pibarnon

Domaine Pinchinat

Château Pradeaux

Domaine de la Réaltière

Château Revelette

Domaine Richeaume

Domaine Sorin

Domaine La Suffrène

Domaine de Sulauze

Domaine Tempier

Domaine les Terres Promises

Domaine de la Tour du Bon

Domaine du Trapadis

Domaine de Trevallon

Château Vignelaure

Domaine de Villeneuve