An Wein oder gar Sparkling Wine ist überhaupt nicht zu denken hier. Alle Konzentration liegt auf der Straße. Linksverkehr bedeutet für den Kontinentaleuropäer, dass er alles, was daheim am Volant Routine ist, vergessen kann. Angstvoll schlotternd steuert er den Wagen durch die Grafschaft Devon. Es gibt wenig Straße, diese sind eng begrenzt, graben sich wie kleine Kellergassen in die Landschaft und werden von hohen und dichten Hecken flankiert. Ungeübten Linksfahrern steht vor jeder Kurve der Schweiß auf der Stirn und das Herz bleibt stehen, samt Auto angesichts drohender Totalkollision bei nahendem Gegenverkehr. Im Land der Ladies und sanften Männer wird ohne einmal die Hupe zu betätigen entweder zurückgeschoben oder durch Nahkontakt von Lack und Geäst genug Raum gefunden. Irgendeine Manövriermöglichkeit findet sich immer.

Hier pflegt man zu sagen: „We don’t love history, we are history.“

So bleibt der Genuss der herrlichen Bilder der Hügellandschaft des weitläufigen Dartmoors, samt Wiesen, Schafherden, alten Bäumen und steinernen Kirchtürmen, dem Beifahrer vorbehalten. Man meint, Agatha Christie käme aus der nächsten rot lackierten, von weißen Rosen umrankten Haustüre. Die hat hier übrigens wirklich gewohnt und ihre Miss Marple perfekt in dieses Schmuckstück von Südengland eingeführt, zwischen bemoosten Grabsteinen, mit Stroh gedeckten Cottages samt üppig blühenden Vorgärten, und einem Dorfpub, das seit 1440 alle Renovierungen links liegenließ.

Als wir endlich nach dem kleinen Dorf Ashprington des herrschaftlichen Sharpham Estate - in absoluter Einzellage  - ansichtig werden und der Wagen schließlich geparkt ist, wäre es Zeit für einen Drink. Haben Sie auch was Härteres als Wein und Sekt? Leider nein.

England, das Empire. Hier pflegt man zu sagen „We don't love history, we are history“. Nur der Weinbau, vornehmlich der von Sparkling Wines, der passt irgendwie nicht ins Bild, das die Engländer über viele Jahrhunderte von sich hatten. Und wir von ihnen.

Es war das berüchtigte Wetter. Die Römer bauten Wein an, danach war lange nichts mehr. Regen und Kälte bevorzugten nicht die Winzer, sondern der Pilzbefall. Dem Pilz wiederum ist der Wein gleich, er interessiert sich für die Weinbeeren. Wie heißt es in England: „Wer nichts zu sagen hat, soll eben übers Wetter reden.“

Neben den Böden sind Sonnenlicht, Wärme und Feuchtigkeitsgrad bestimmende Faktoren beim Anbau für Wein. Längere trockene Sommer resultieren seit Neuestem in stabileren, quantitativ als auch qualitativ besseren Ergebnissen.

Kreideböden! Champagner! Klingelt es?

Es ist aber noch kalt genug, sodass die für trockene Sparklings wichtigen Sorten deren markante Säure nicht verlieren, eine wichtige Eigenschaft für elegante Schaumweine. Die Küstennähe liefert aufgrund des Golfstromes mildere Bedingungen.

Und die begehrten Kreideböden verlaufen unter dem Ärmelkanal von Frankreich nach England. Kreideböden! Champagner! Klingelt es? Andrew Jefford, Schreiber des englischen Weinmagazins Decanter, frohlockt über die „weltweit vielversprechendste önologische Entwicklung dieser Epoche“.

Die Regionen locken internationale Investoren an, die Rebfläche hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt – oder anders gezählt: Es gib 50-mal mehr Vineyards als 1970. Derzeit werden von rund 700 Weingütern gut 2000 Hektar Land mit Weinstöcken bestellt und circa 5 Millionen Flaschen pro Jahr produziert. Das Weingut Nyetimber gilt dabei als englischer Vorzeigesparkling, der auch in Europa seine gepfefferten Preise erzielt. Die Weine des Sharpham Estate trinken die Briten hingegen selbst.

Saftiges Grün für Schafe und Rinder, perfekte gereifte Trauben für den Wein.

Ideale Bedingungen finden sich in dem Tal, durch das der Fluß Dart fließt, und man sagt sich: Fluss und Weinbau, das hat sich schon in einigen Gegenden als erfolgreiche Kombination erwiesen. Hier stehen sie, hellgrüne Weinstöcke in Reih und Glied, sanft ansteigende Linien ziehend, zwischen dem Fluss und dem großen Herrenhaus im Stil von Rule Britannia, dessen Geschichte bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Sie erzählt von spanischen Galeeren auf hoher See und dem Navy-Offizier Philemon Pownoll, der sich deren Schätze bemächtige. Die Belohnung – ein kleines Vermögen – steckte er in den Kauf des 200 Hektar großen Estate, eine damals schon alte Farm. Und den Bau des Herrenhauses. Heute ist das Anwesen Teil einer Stiftung, the Sharpham Trust.

Dieser Name steht für diversifizierte erfolgreiche Partnerschaft: das Seminarhaus (spirituell), das Weingut (nachhaltig) und die Käserei (biologisch). Im Haus wird das im angrenzenden Walled Garden gezogene Gemüse von Gästen aus der ganzen Welt verspeist – vor oder nach den Yoga-Übungen.

Hinter dieser Steinmauer probte Margaret Rutherford ihre Rolle als Agatha Christies Miss Marple. So erzählt man sich.
Was für eine Welt, in der das Gemüse, welches zubereitet wird, tatsächlich aus dem eigenen Gemüsegarten kommt.

Das Weingut produziert seit fast 25 Jahren „some of England's most outstanding wines“, wie viele Kritiker sagen. Der Dry Sparkling Blanc ist die Übersetzung dieser Gegend ins Champagnerglas. Perfekt balanciert und so wunderbar knochentrocken, dass so mancher Winzer aus der Champagne vor Neid erblassen würde. Die Käserei gewinnt Cheese Awards mit Rohmilchkäse von den eigenen Jersey-Kühen, die alle ihre Energie in ihre fettreiche und hocharomatische Milch stecken.

Tom Wedgery leitet eine muntere Schar von Besuchern durch die Weingärten. Kameras klicken im Angesicht von Scharen wilder Vögel, die den Fluss entlanggleiten.

Oder hübschen Tafeln mit der Sortenbezeichnung wie Madeleine Angevine. Tom erklärt, dass „Cuttings“ dieser Weißweinsorte mit dem schönen Namen von einem „Typ aus Norfolk“ in den 50ern aus dem Loire Valley mitgebracht wurden.

Das Besucherinteresse an Sharpham ist groß, obwohl Sharpham ein kleines Weingut ist. Mark Sharman fungiert als Managing Director und Duncan Schwab als Head Winemaker, dessen guter Ruf sich bereits über ganz England ausgebreitet hat. Auf die Frage, was genau Toms Funktionen neben ausführlich kommentierten Verkostungen so sind – im früheren Leben war er Sommelier in einem Michelin-Restaurant – kommt schnell und gar nicht kokett: „Ich putze hier auch die Klos.“ Nach einigem Nachfragen wird klar, es wird hier eng zusammengearbeitet, Verantwortung und gemeinsame Visionen werden geteilt. Experimentierfreude zündet Feuer unter den Hintern.

Durchschnittlich werden 65.000 Flaschen abgefüllt. 2018 wird ein Rekordjahr (heiß und trocken), es werden um die 100.000 Flaschen erwartet. Die Anbauflächen befinden sich alle im Umkreis von drei Meilen und teilen sich in zwei Gebiete – der Südhang vor dem Herrenhaus und nach zwei Flusskurven Richtung Meer noch mal 28 Acres, insgesamt etwa 15 Hektar. Beide Flächen sind aufgrund ihrer Lage zum Fluss, der Neigung und der Ausrichtung sehr speziell und die teilweise steile Hanglage entwässert optimal bei starkem Regen. Glücksfälle im Weinbau. „Man muss genau wissen, wo welche Sorten  gepflanzt werden“, sagt Tom.  Alles wird von Hand geerntet und separat fermentiert.

Typisch
für das Terroir ist
die aufgrund des hohen Eisengehalts rot gefärbte Erde. Gut für den Wein, schlecht für helle Teppiche.

Der Fluss Dart führt aufgrund der Meernähe Salzwasser, welches in Ebbe und Flut auf bzw. abschwillt und Luftmassen bewegt. Diese Luftumwälzung als auch das Reflektieren der Sonne erzeugt ein für den Wein harmonisierendes Mikroklima und manche Frostgefahr wird abgewendet. Sehr typisch für Sharphams Terroir ist die aufgrund des hohen Eisengehalts rot gefärbte Erde. Gut für den Wein, schlecht beispielsweise für helle Teppiche. Darum türmen sich im Herrenhaus die Schuhe in der runden Eingangshalle und die erlesenen Salons und Vierpfostenbettzimmer werden auf Socken erkundet.

South-Devon ist kein guter Ort für Klimawandel-Leugner, denn es ist evident, wie sich das wärmere Wetter auf den Weinbau auswirkt. Es wird nun auch viel mehr Pinot Noir und Pinot Gris angebaut als in der Vergangenheit. Außerdem kann früher geerntet werden. Ausnahmen bestätigen die Regel, wie der schwierige Jahrgang 2017, nass und kalt, ein gefundenes Fressen für den Mehltau und seinesgleichen. Da Sharpham biologisch geführt wurde, war der Moment der Entscheidung ein Wendepunkt: Größere Mengen an organischen Fungiziden spritzen als für ein Bio-Weingut erlaubt. Oder die Ernte komplett abschreiben. Die Folge: Seit 2017 betiteln sich Sharphams Weine (wie einige andere Weingüter ebenso) mit dem inoffiziellen Titel „nachhaltig“ und nicht mehr „organic“. Dennoch ist der Plan klar. Es wird weiterhin strikt auf Pestizide verzichtet. „Das ist eine Frage der Ethik,“ sagt Tom. Der Lohn der Arbeit und des Verzichts auf die Chemiekeule sind Trauben, die regionale und saisonale Individualität ins Spiel bringen, und Weine, die sich vom Einheitsgeschmack abheben. Um diese Unverwechselbarkeit noch deutlicher zu machen, wird mit wilder Hefe experimentiert. Tom sagt: „Wir arbeiten hier hart, um die Geschichte unserer Weine zu erzählen: Weine von eisenhaltigen, sandigen Böden aus Devon.“

Ein Glas feinster Sparkling mit diesem Ausblick? Yes, James, please the same procedure!

Der Geist der Nachhaltigkeit hat auch andere befallen. So ist das nahe Totnes eine der sogenannten Transition Towns in England. Hier wird schon mal für die Zeit nach der Energiewende geübt. Weniger Verbrauch, mehr Nachbarschaftshilfe, lokale Währung, Garten-Sharing, mit altem Speiseöl betriebene Taxis, Selbstversorgung inklusive Kompost-Toilette. Nachhaltigkeit, die mehr ist als das Aufstellen von Windrädern in schönen Landschaften.

Määäähhh...
Pinot Gris, Madeleine Angevine oder Bacchus. Was genau hier steht, sucht unsere Autorin noch in ihren Notizen.

Ein sonniger stiller Nachmittag Anfang September 2018. Die Belegschaft bereitet sich vor auf eine reichhaltige Ernte. Die zu verarbeitenden Mengen sind so gewaltig, dass eine zweite Presse herbeigeschafft werden musste. Diese wartet noch – in diverse Einzelteile zerlegt – vor der Produktionshalle auf ihren ersten Job. Wer am Estate wohnt, darf auch ohne Begleitung durch die Weinberge schlendern.

Weinberge mit dem Blick auf weidende Kühe und Schafe.

Mit dem Blick auf weidende Kühe am anderen Ufer und die kleinen Schilder mit verschiedenen Traubensortennamen in den Weingärten lernt der Spaziergänger, dass sich auf Sharpham zwar fast alles um Schaumweine dreht, dass aber auch Weiß- Rosé und sogar Rotweine in die Flasche kommen. Am Anfang der Liste stehen aber in vielerlei Hinsicht die PDO English Quality Sparkling Wines, wobei PDO Protected Designation of Origin bedeutet.

Zu Bubbles werden 60 Prozent der Trauben und zwar die klassischen drei Champagner-Rebsorten: Pinot Noir, gefolgt von Chardonnay und Pinot Meunier. Nach etlichen Monaten der Flaschenlagerung und abschließender Degorgierung der in der Flasche vorhandenen Hefepartikel kommt dann ein wahrlich „Very Dry Brut Natural“ Sparkling Reserve Extra Brut ins Glas, der eine mineralische Klarheit mit Fruchtakzenten aufweist, und dessen Bubbles sanft evaporieren. Neben dem Extra Brut gibt es an Sparklings Blanc, Rosé und Elderflower (die Hollunderblüten wachsen ebenso am Estate).

Ein wahrlich „very dry Brut natural“ Sparkling Reserve Extra Brut !

Bei den Weißweinen sind es Pinot Gris, Madeleine Angevine oder Bacchus, die als „Barrel Fermented“, „Dart Valley Reserve“ oder „Estate Collection“ abgefüllt werden. Für den Letzteren wird die Loire-Sorte Madeleine Angevine auf dem Weg zum English Quality Wine zuerst im französischen Eichenfass, dann im Stahltank, dann wieder im Fass fermentiert. Nach einigem Umrühren kommt der Tropfen in die Flasche, wo er acht Monate warten muss, bevor er zum Trinken okay gegeben wird, außergewöhnlich lange für einen englischen Weißwein.

Beim Beschreiben des Aromas der „Estate Collection“ gerät Tom ins Schwärmen: „Süßer Apfel, Cream Soda, Flug-Ananas, langer Abgang.“ Unter dem Stichwort „English Nouveau Alternatives“ wird 2018 der „New Release“ genannte Tropfen aus Madeleine Angevine und Bacchus in nur neun Wochen gekeltert, der Wein für den schnellen, unbedachten Genuss. Wie man weiß, eint die Briten eine irrsinnige Leidenschaft für Wettbewerbe und Awards. So auch beim Wein und die Anzahl der Wettbewerbe übersteigt locker die der einreichenden Weingüter. Die beiden Rosé-Weine (Pinot Noir & Dornfelder) gewannen 2016/17 die South West Vineyards Competition bzw. die Trophy for best Rose at the South West Vineyards.

„Süßer Apfel, Cream Soda, Flug-Ananas, langer Abgang.“

Preise, von denen wir auf dem Kontinent noch nie gehört haben, die aber das Selbstverständnis der britischen Winzer prägen wie eine gewonnene Seeschlacht gegen die Holländer oder Spanier. „Sharpham Pinot Noir“ ist einer der beiden Rotweine. Der zweite namens „Beenleigh Reserve“ (Cabernet Sauvignon & Merlot) ist der meistausgezeichnete Rotwein im United Kingdom.

Die aufwendige Produktion macht die neuen Sparklings aus Großbritannien zu einem teuren Spaß, was ihre Durchsetzungskraft am europäischen Markt empfindlich reduziert. Um die Zeit des Erscheinens dieser Schluck-Ausgabe werden wir  vermutlich wissen, wie hart der Brexit für England und Europa wird. Kann sein, dass das Preisargument dann nicht mehr viel gilt, weil dank höherer Einfuhrsteuern und anderer Hemmnisse die Engländer ihre Sparklings vornehmlich selbst trinken werden müssen.