Vom Frühstückstisch des Hauses Hirt sehe ich auf den Bergrücken des pudergezuckerten Stubnerkogel. Bad Gastein wirkt hier wie eine Winterlandschaft aus einem Märklin-Eisenbahnkatalog aus den 80er-Jahren. Ab und an bahnt sich ein Zug seinen Weg durch den lichten Nadelwald oberhalb des Ortes. Als Junge lag ich in ewigen Kinderstunden im Hobbykeller meines Großvaters und sah der Dampflok bei ihrer unermüdlichen Fahrt durch die Winter- und Sommerlandschaft zu. In diesem Moment suche ich fast nach den roten, blinkenden Lämpchen, die erst ausgingen, wenn ich schlaftrunken ins Bett fiel. Das Surren des Zuges im Ohr.

Bad Gastein ist die vergessene Grande Dame der Sommerfrischler. Späht man durch die verstaubten Fenster der verlassenen Prachtbauten, entdeckt man hinter altem Putz Spuren von längst vergangenem Leben. In halbvollen Salzstreuern baden vergilbte Reiskörner, barocke Porzellanvasen stapeln sich auf dunklen Anrichten und Besen, die im Staub versinken, biegen ihren Bürstenhaarschnitt zur Seite wie betrunkene Landstreicher die Knie.

Alles versprüht das Gefühl, als hätte sich Enid Blyton hier die Inspiration zu den Fünf-Freunde-Erzählungen abgeholt. Irgendwo zieht Tante Fanny sicher gerade Dick und Anne aus einem der Bediensteten-Zimmer, nachdem sie in einem entdeckten Schmugglertunnel hinterm Wandschrank verschwinden wollen.

Genau wie der Glanz, so ist auch der Fall von Bad Gastein allgegenwärtig.

Bad Gastein erzählt seine Geschichten: Fürst Bismarck, der am tosenden Wasserfall im Ort über die Sozialgesetze nachdenkt, der Schah von Persien und Kaiser Wilhelm, die sich in schroffen Bergwelten, fernab jeder Weltbühne entspannten. Man war unter sich. Man genoss die Sommerfrische im Gasteiner- und im Kötschachtal nicht nur wegen der guten Luft, der Marillenknödel und dem mit reichlich Radon gefüllten Stollen, sondern eben auch, weil es einer dieser Orte war, an den man eben fuhr, weil man es danach erzählen konnte.

Genau wie der Glanz, so ist auch der Fall von Bad Gastein allgegenwärtig.

Nicht gehaltene Investorenversprechen, größere Ski-Gebiete, die im nahen Salzburger Land schneller erschlossen und dem Massentourismus zugänglich gemacht worden sind, sowie immer günstiger werdende Interkontinental-Flüge. In den 80ern schien Bad Gastein verloren. Die Prominenz fuhr nach St. Moritz, Kitzbühel und Aspen und der Massentourismus folgte.

Doch der Ort hat seine Grandezza bewahrt, er wartete im Schneewittchenschlaf, bis junge Hoteliers sich seiner annahmen. Thomas Tscherne war einer von ihnen. Er ging nach Bad Gastein und kaufte im Sommer 1995 gemeinsam mit seiner Frau das Hotel Weismayer; einen imposanten Bau aus dem 19. Jahrhundert in unmittelbarer Nachbarschaft des Casinos. Er glaubte an Bad Gastein und er wusste, es würde dauern, bis der Ort wieder auf die Beine kommt. Aber Thomas Tscherne ist ein geduldiger Mann.

Wir treffen den Hotelier am Nachmittag auf einer Talhütte für Skifahrer. Der Après-Ski plärrt auch hier seinen blechernen Schlagersound über rotwangige Jagertee-Trinker hinweg. Thomas Tscherne wartet ein paar Meter weiter neben einem Schneemobil. Blaues Hemd, dunkle Hose, eine graue Filzjacke unter der grünen Steppjacke, festes Schuhwerk. Er drückt uns allen die Hand: „Ich bin der Thomas.“

Der Hirsch-Flüsterer Thomas Tscherne (rechts) mit seinem Helfer

Tscherne ist jemand, dem man ohne Bedenken sein Kind für eine mehrtägige Bergtour anvertrauen würde. Er besitzt die Autorität von Menschen, die schon sehr lange ihre Aufgabe gefunden haben. Wir fahren neben der leeren Talabfahrt mit dem Schneemobil in den Wald.

Binnen Minuten ist man mitten in einem Hotzenplotz-Wald. Dickbäuchig liegt Schnee auf den sich nach unten biegenden Ästen dunkelgrüner Tannen, dampfende Kaltblüter stehen auf einer Lichtung, der Weg wird schmaler, bis er fast nicht mehr als solcher zu erkennen ist. Lediglich die Furchen der morgendlichen Fahrt von Thomas Tscherne sind noch zu erkennen. Wir arbeiten uns langsam den Berg hoch auf 1750 m bis zur Futterstelle seines Hirschrudels.

Seit 1995 hat Tscherne neben dem Hotel in Bad Gastein auch die Pacht für die Jagd am Berg hier im Gasteinertal. Den Hotelier muss man ihm erst entlocken. Die Pacht bestimmt sein Leben – vor allem im Winter, wenn er zwei Mal am Tag zur Futterstelle fährt, um rund 120 Stück Wild zu verpflegen. Im Winter ist der Jäger die einzige Überlebenschance der Tiere.

Wir kommen oberhalb der Baumgrenze an einer hölzernen Scheune mit ein paar tischähnlichen Holzgestellen zum Stehen. Tscherne öffnet die großen Schiebetüren und beginnt mit dem schaufelweise Verteilen einer Mischung aus Apfeltrester, Maissilage und Weizenkleie auf den Tischgestellen. In der Ferne sehen wir schattenartig die ersten paar Dutzend Tiere vom Berg schauen.

Tscherne ist jemand, dem man ohne Bedenken sein Kind für eine mehrtägige Bergtour anvertrauen würde.

Noch sind sie fast bewegungslos und beobachten in einigem Abstand das tägliche Ritual. Nach einer Weile kommen sie vorsichtig näher. Spätestens als das Anrichten erledigt ist und Tscherne die Tiere mit „Hirscherl, kommts her Hirscherl“ zum Abendessen ruft, wird es lebendig an der Futterstelle.

Die ersten Hirsche kommen in dauernder Alarmbereitschaft an die Gestelle. Rund 120 werden es heute insgesamt. Tscherne fängt an zu erzählen: „Stellt euch vor, jemand sagt, dass ihr ruhig mit den Haien im Meer schwimmen könnt. Solange es kalt ist und ihr zu einem bestimmten Riff kommt, füttern sie euch, wenn es warm wird und die Haie euch in einem anderen Teil des Meers sehen, dann fressen sie euch.

Wir sind die Haie der Hirsche. Hier vertrauen sie uns, dank jahrelanger guter Erfahrungen, aber ihr Instinkt sagt ihnen, dass wir auch Todfeinde sind.“ Einen Hirsch in freier Natur auf ein paar Meter Nähe Auge in Auge zu sehen, ist überwältigend, über 100 mächtige Hirsche und Jungtiere nur wenige Zentimeter entfernt zu spüren, ist unbeschreiblich.

Tscherne geht seiner Arbeit auch mit einer gehörigen Portion Pädagogik nach. Er will auf klären über die Tiere, die die meisten von uns nur als fettarmes hocharomatisches Stück Rücken-Fleisch auf dem Teller kennen: „Ein Hirschrudel hat einen Überhang an männlichen Tieren, da diese sich besser verteidigen können.

Zwischen Mai und Dezember werden rund 50 Tiere geschossen, damit die Population im Gleichgewicht bleibt. Dabei muss der Jäger darauf achten, dass die soziale Struktur erhalten bleibt: Hirschkühe kalben zu 80 Prozent jedes Jahr und das, obwohl sie nur zwei Tage im Jahr fruchtbar sind. Geschossen wird zwischen Mai und Dezember – gleichmäßig Hirsche, Hirschkühe und Hirschkälber. Sie können also ruhig Hirschkälber essen. Die meisten von ihnen schaffen es sowieso nicht über den Winter. Wir sorgen dafür, dass das Rudel in seiner sozialen Struktur bestehen bleibt.“

Tscherne selber sah die Tiere erst nach vier Jahren. So lange ist er zwei Mal pro Tag zu Fuß hierher gekommen um das Futter auszubreiten. „Eine Straße gab es nicht. Die ersten vier Jahre haben die Tiere meine Tage bestimmt.“ Im vierten Jahr hat er aus der Ferne die Tiere das erste Mal beobachten können. Da war er schon als „Phantomfütterer des Gasteinertals“ bekannt.

„Die Leut‘ haben sich schon gefragt, warum ich das alles mache. Aber wir zerstören den Lebensraum der Tiere. Da wollte ich ihnen einen ruhigen Platz geben, der sie über den Winter bringt.“ Erst nach zwölf Jahren täglichen Fütterns hat das Rudel ihn in der Nähe des Futterplatzes akzeptiert. Nach ein paar weiteren Jahren durfte er Gäste mitbringen.

Die kapitalen Hirschgeweihe, die einige der Tiere auf ihrem Kopf tragen, sind Zeichen von Gesundheit und Stoffwechselüberschuss. „Viele fragen mich, ob man am Geweih das Alter des Hirsches sehen kann. Mei, die Tiere sind keine Bäume. Wie bei den Menschen auch, dreht sich alles um die Damenwelt.

Da war er schon als „Phantomfütterer des Gasteinertals“ bekannt.

Geht es einem Tier gesundheitlich gut und verausgabt er sich in der Brunftzeit für seine Liebsten nicht völlig, schiebt er bis zu einem Meter neues Geweih in 100 Tagen. Das gefällt den Damen dann auch. Wer ein großes Geweih hat, steht in der Rangordnung oben.

Jedes Jahr beginnt nach dem Abwerfen des Statussymbols der Weg für alle aufs Neue.“ Unter den vielen Tieren, die wir heute zu sehen bekommen, gibt es Dutzende mächtige Geweihe, die auf Leinwand betrachtet kitschig aussehen, aus der Nähe angsteinflößend schön.

Die Tiere haben von Tscherne eine Lebensrauminsel bekommen, in der nicht gejagt, sondern gefüttert wird. Im Tal haben sich die Menschen angesiedelt, auf dem Berg fahren sie Ski und am Mittelberg wird Forstwirtschaft betrieben. Wenn der Schnee liegt, würden die Tiere ohne Tscherne nicht überleben, vor allem weil sie nicht wüssten, wo.

Sie ernähren sich in der Regel von Grünzeug und Baumrinde. Keins von beidem steht im Winter erreichbar zur Verfügung. Apfeltrester, Silage und Weizenkleie scheinen nahrhafter Ersatz zu sein. Das Vertrauen in ihren geduldigen Proviantmeister ist groß.

Zur Jagdsaison von Mai bis September verschwindet das Vertrauen. Tscherne schießt bis zu 4 Tonnen Wild pro Jahr. Der größte Teil seines Fleisches kommt aus diesem Rudel, dazu ein knappes Dutzend Gämse und wenige Steinböcke. Das gesamte Fleisch geht in das Restaurant seines Hotels.

Im September beginnt die Brunftzeit, sobald der erste Schnee kommt, kommen die Tiere an die Futterstelle und der Jäger wird wieder zum Proviantmeister.

„Die Tiere wissen das, aber sie wissen auch, dass sie am Futterplatz sicher sind.“ Die Tiere entscheiden hier auch, wann gefüttert werden muss. Im Frühjahr tauchen sie irgendwann nicht mehr auf. Nicht er entscheidet, sondern das Rudel. Solange wie die Hirsche kommen, fährt er geduldig zwei Mal am Tag auf den Berg.

Die Tiere haben eine Lebensraum-Insel bekommen.

Menschen wie Thomas Tscherne, die die neue Schönheit des Gasteinertals sichtbar machen, gibt es reichlich in Bad Gastein. Evelyn Ikrath, die Gastgeberin des Hauses Hirt, die nach einigen Wanderjahren mit viel Liebe, ihrem Mann, dem Architekten Ike, und guter Küche aus dem Familienbetrieb ein modernes Hotel für Familien zum Durchatmen geschaffen hat.

Man spürt, dass sich etwas tut. Das Vokabular, was in Bad Gastein im Vordergrund steht, hört sich an wie das aus Berlin-Mitte. Es gibt eine Pop-up-Hütte auf der Skipiste, eine Kunstgalerie an der Kaiser-Wilhelm-Promenade und eine Gin-Tonic-Bar unter dem alten Casino.

Der Ort sucht eine weltgewandte Alternative zum immer gleichen Après-Ski-Gejodel, oder dem St.-Moritz-Schick. Friedrich „Supergeil“ Liechtenstein hat sein aktuelles Album nach dem Ort benannt und am hiesigen Glühweinstand gibt es Pulled-Pork Semmeln. Ich werde wieder nach Bad Gastein fahren. Um Sommerfrische zu machen.